33 % Das Waldmagazin: Wieso geht uns der Regenwald am Amazonas alle an?
Antônio Andrioli: Der Amazonas-Regenwald liefert 20 Prozent des weltweiten Sauerstoffs, er bindet CO2 im Boden, er sorgt für Feuchtigkeit, in der eine Tier- und Pflanzenwelt von unfassbarer Vielfalt und voller Geheimnisse gedeiht – wir können beispielsweise nur ahnen, wie viele Heilpflanzen dort wachsen. Bis zu 120 Tonnen Kohlenstoff sind in der Biomasse des Amazonas-Regenwalds gespeichert. Er ist die Heimat der indigenen Völker. Aber er hütet auch Bodenschätze: Öl, Gas, Gold und Mineralien. Das weckt natürlich Begehrlichkeiten.
Was passiert derzeit am Amazonas?
Im vergangenen Jahr ist die Entwaldung massiv vorangeschritten, um 89 Prozent im Vergleich zu 2018. Als sogenanntes »herrenloses Land« gehört die Region größtenteils dem Staat. Die Regierung von Jair Bolsonaro erlaubt dort Abholzung und Brandrodung in gigantischem Ausmaß. Großkonzerne, Minenbesitzer und Holzfirmen beuten das Land aus. Auf den Holzeinschlag folgt die Viehzucht, dann das Zuckerrohr, dann der Soja. Diese eine Pflanze bedeckt 35 Millionen Hektar, eine Fläche so groß wie Deutschland. Auch Eukalyptus und Kiefern werden gepflanzt – alles Bäume, die den Boden schnell auslaugen. Nach fünf Jahren Sojakultur ist der Boden fertig. Man nimmt also einen absurden Tausch vor, indem man aus wertvollem Boden Brachen macht. Ricardo Galvão, der ehemalige Präsident des Brasilianischen Weltraumforschungsinstituts INPE und damals zuständig für die Beobachtung und Kontrolle der Rodungen, gibt das Ausmaß der Zerstörungen mit 20 Prozent an. Bei 25 Prozent kollabiert das System. Wenn ich optimistisch bin, gebe ich uns noch zehn Jahre.
Können Ökonomie und Ökologie in Brasilien in Einklang gebracht werden?
Nein, leider geht es derzeit nur noch um die Wirtschaft. Die Umwelt wird als Hindernis für das Wirtschaftswachstum wahrgenommen. Es findet ein absichtlicher Abbau der Umweltbehörden statt. Der Minister für Umwelt ist dem Landwirtschaftsministerium untergeordnet, das Bundesministerium für Agrarentwicklung wurde abgeschafft. Die Machtverhältnisse haben sich grundlegend geändert: Es gibt nicht mehr eine Regierung, die von Großgrundbesitzern unter Druck gesetzt wird – die Großgrundbesitzer sind jetzt die Regierung.
Auf der Makroebene, also der Ebene der großen Politik, sieht es deshalb sehr schlecht aus. Dagegen ist auf der Mikroebene viel in Bewegung geraten. Das Schicksal des Regenwalds hängt eng mit dem Schicksal der indigenen Bevölkerung zusammen. Das, was die Menschen vor Ort verändern, macht mir Hoffnung.
Wie wichtig ist den Brasilianern der Regenwald?
Bei vielen genießt das Thema nicht oberste Priorität, es herrscht leider keine Klarheit darüber, dass es eine Unbegrenztheit der Ressourcen nicht gibt. Obwohl die Regierung für den Raubbau mitverantwortlich ist, liegen ihre Zustimmungswerte enorm hoch. In Santa Catarina, meiner Heimat im Süden Brasiliens, betragen sie über 70 Prozent. Die Menschen sind mit dem derzeitigen Kurs einverstanden, obwohl die Politik gegen ihre Interessen verstößt. Es gilt die Devise, dass sich andere Länder nicht einmischen sollen. Zugleich hilft die Regierung durch ihre Abholzungspolitik den internationalen Konzernen bei der Gewinnmaximierung. Sie argumentiert also nationalistisch, bringt aber fremde Firmen und Staaten voran – zum Preis der Ausbeutung des eigenen Landes.
Sie betonen immer wieder, wie zentral die Indigenen für den Schutz des Regenwalds sind. Wie sehen die Zusammenhänge aus?
Ohne die indigenen Völker kann der Schutz der Regenwälder nicht gelingen. Sie kennen den Lebensraum, sie haben das Wissen, wie er bewirtschaftet werden kann, ohne ihn zu zerstören. Sie leben Nachhaltigkeit seit Jahrtausenden. Kein Wunder also, dass die Konzerne die Indigenen vertreiben wollen. Diese Menschen brauchen dringend unseren Schutz.
Man kann durch Digitalisierung keine Bauern ersetzen, das gilt für Europa natürlich genauso. Wir müssen weltweit auf ihr traditionelles Wissen zurückgreifen und es mit der Wissenschaft verbinden. Nur bäuerlich geprägte Regionen werden es schaffen, ein Gleichgewicht zwischen Nutzung und Erhaltung herzustellen – also Agroforst statt Monokultur.
Vom Vorbild der indigenen Menschen können wir weltweit lernen. Niemand ist gegen Nachhaltigkeit, auch wenn die meisten noch nicht nachhaltig leben. Da muss sich das Bewusstsein noch stärker ändern, es muss sozusagen zum bewusst Sein führen.
Welche Klima-Auswirklungen sind in Brasilien spürbar?
Der Regen hat nachgelassen, es ist sehr heiß geworden, die Insekten sterben. Insgesamt 25 »Pflanzenschutzmittel« der Firmen BASF und Bayer, die in Deutschland nicht zugelassen sind, werden in Brasilien ausgebracht, verseuchen den Boden und sorgen für das Insektensterben. Im Süden Brasiliens gibt es jetzt weniger Insekten als in der chilenischen Atacama-Wüste. Das Wasser ist kontaminiert, die Erosion schreitet voran. Seit der Einsatz von Pestiziden 2004 zugelassen wurde, hat sich ihr Einsatz um das Dreifache erhöht.
Was für eine Rolle spielt Europa?
Manchmal weiß ich nicht, ob sich Europa nur naiv verhält oder doch scheinheilig. Zwei Punkte scheinen mir zentral: Man darf nicht zulassen, dass sich die brasilianische Regierung nicht an Abkommen hält – denn das Land ist an allen wichtigen Abkommen beteiligt, es gibt nur keinen Durchsetzungsmechanismus. Und man muss zum anderen die Zivilgesellschaft mobilisieren.
Europa könnte dafür sorgen, dass das Freihandelsabkommen mit dem Mercosur, dem »Gemeinsamen Markt Südamerikas«, nicht ratifiziert wird. Außerdem sollte es auf EU-Ebene eine Kennzeichnungspflicht für Produkte geben, in deren Herstellungskette Gentechnik vorkommt, beispielsweise Tiere, die genmanipulierte Futterpflanzen fressen. 95 Prozent des brasilianischen Sojas ist gentechnisch verändert.
Immer mehr Menschen in Europa fordern gentechnikfreie Produkte, und die Konzerne stellen sich inzwischen auf den Verbraucherwunsch ein – da kann jeder Einzelne ansetzen, wenn das oben beschriebene Schlupfloch geschlossen wird und eine Kennzeichnungspflicht gilt. Generell darf man den Schuldigen nicht die Hand reichen. Wie kann man eine Regierungsvertreterin, die in Brasilien unter dem Namen »Giftkönigin« bekannt ist, zur Grünen Woche nach Berlin einladen? Diese Doppelmoral ist das Schlimmste.
Wie sehen Sie die Situation der Wälder in Deutschland?
Hier passiert einiges, die BUND-Kampagne für bedrohte Tiere zieht Kreise, viele Naturschutzgebiete werden eingerichtet und unterstützt. Auch hier ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf das Thema Agrarökologie zu lenken: Die Agrarwende ist ja eine Aufgabe an die gesamte Gesellschaft, sie betrifft die Wissenschaft, die Landwirtschaft, aber auch unseren Lebensstil.
Gibt es Umweltschutzbewegungen in Brasilien?
Es gibt Bewegungen, auch solche, die sich für Klima und Umweltschutz engagieren – und daneben eine Regierung, die die gegensätzliche Richtung einschlägt. Vor allem junge Leute und Frauen werden aktiv, oft auch aus den ärmsten Schichten. »Espero tua (re)volta« ist ein Beispiel, da protestieren Schülerinnen und Studentinnen gegen die Schließung von Hunderten Schulen.
Ein ganz wichtiger Hebel, um Menschen zu mobilisieren, ist die Gesundheit. Auch hier geschieht Absurdes: Auf den gerodeten Urwaldgebieten werden enorme Mengen an Pestiziden ausgebracht, die die Leute krank machen. Woraufhin sie Medikamente der Pharmafirmen nehmen, die die Pestizide herstellen.
Wie ist die Lage der brasilianischen Umweltschützer und Wissenschaftler?
Mehr als 100 Umweltaktivisten hat man in den letzten Jahren umbringen lassen, eines der prominentesten Opfer war Marielle Franco im März 2018. Viele Morde werden als Selbstmorde getarnt. Forscher, Journalisten und Künstler arbeiten unter starker Zensur. Kritische Menschen an zentralen Positionen wie beispielsweise Ricardo Galvão wurden entlassen. 2400 brasilianische Wissenschaftlicher leben derzeit im Ausland. Die Judikative ist vollkommen korrupt. Man braucht in Brasilien keine Beweise mehr, man braucht nur noch Zeugen. Die Stimmung ist sehr gefährlich für alle, die sich für Demokratie, Aufklärung, Gleichberechtigung und die Rechte der Indigenen einsetzen.
Was bedeutet Ihnen in dieser Situation die Verleihung des Bayerischen Naturschutzpreises durch den BUND Naturschutz?
Der Preis der ältesten und größten deutschen Umweltorganisation bedeutet mir sehr viel – und die Auszeichnung wird auch im Ausland wahrgenommen. Ich bin kein Unbekannter mehr. In Brasilien kann ich mich zwischen meinem Haus und der Universität nicht ohne Begleitschutz bewegen, ich habe im Wahlkampf Morddrohungen erhalten, und sogar meine Schwester wurde bedroht.
Ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt nach Brasilien zurückkehren soll oder ob ich nicht von Europa aus mehr bewirken kann. Aber ich möchte meinen Job an der UFFS, der Federal University of Southern Frontier, die ich vor zehn Jahren mitbegründet habe, nicht verlieren.
In der Wissenschaft habe ich gelernt, dass man nicht aufgeben darf. Unsere Universität hat 10 000 Studenten, mit einem hohen Anteil an Indigenen. Wir haben fast 1400 Menschen eingestellt, darunter rund 700 Professoren. Ich möchte dort miterleben, wie die erste Professorin für Agrarökologie aus unserer Universität hervorgeht.
Das Rachel Carson Center in München ist eine unabhängige Institution, gegründet 2009 als ein Gemeinschaftsprojekt der Ludwig-Maximilians-Universität und des Deutschen Museums. Als Zentrum für Forschung und Bildung in Umwelt-, Geistes- und Sozialwissenschaften fördert es die internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit rund um das Thema Mensch und Natur.
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