Vom Wald in den Mund

Food Forest – wer diesen Begriff zum ersten Mal hört, denkt an die essbaren Pflanzen und Früchte im Wald. Klingt logisch, ist in diesem Fall aber nicht gemeint. Was also dann verbirgt sich hinter dem Konzept eines »Waldgartens«?

Text: Stefanie Syren, Illustration: Berthi Gibaja, Ausgabe 02/20

Berthi Gibaja kennt das Prinzip Food Forest seit ihrer Kindheit in Peru. Ihre Vorfahren bauten Obst und Gemüse auf diese Weise an. Heute lebt die Illustratorin Berthi in München. © Berthi Gibaja, https://www.berthidesign.de

Pilze oder Beeren sammeln, das hat fast jeder schon einmal gemacht. Auch das Schneiden der ersten frischen Bärlauchblätter trauen sich längst nicht nur Kräuterkundige zu. Doch bei den Food Forests, die auch in Deutschland unter diesem Begriff bekannt sind, geht es nicht um eine Rückkehr des Menschen zu seinen Wurzeln: Statt als Jäger und Sammler tritt der Homo sapiens im Food Forest als Gärtner auf. Diese essbaren Wälder können durchaus klein und in Städten oder dem eigenen Garten angelegt sein. Der Begriff Wald verwirrt also eher ein wenig: Statt klassischer Forstgehölze wie Fichten und Buchen wachsen hier Obstbäume, Beerensträucher, Gemüse und Kräuter und nehmen sich die Waldstruktur zum Vorbild. Ihren Aufbau in verschiedenen Schichten ahmt der Food Forest nach und gliedert sich in eine Baum-, eine Strauch- und eine Krautschicht.

Woher er kommt

Die traditionellen Vorbilder der Food Forests wachsen in den Tropen rund um den Globus und werden vermutlich schon seit Menschengedenken bewirtschaftet. Das warme und feuchte Klima und die entsprechende Produktivität der Pflanzen machen hier den Anbau tropischer Nutzpflanzen in mehreren Schichten möglich. In Europa gilt der im Jahr 2000 verstorbene Brite Robert Hart als Pionier. In seinem eigenen Garten in Shropshire imitierte er den Aufbau englischer Laubwälder für das Gärtnern in mehreren Schichten. Statt Mangos oder Bananen pflanzte er an das britische Klima angepasste Gehölze und Kräuter an. Sein 1996 erschienenes Buch »Forest Gardening« gilt bis heute als Standardwerk. Gegenwärtig sind zum Beispiel der Engländer Martin Crawford und der in Brasilien lebende Schweizer Ernst Götsch Protagonisten der Waldgarten-Bewegung. In Deutschland wurde diese Kulturform einer breiteren Öffentlichkeit 2017 im Rahmen der Internationalen Gartenausstellung (IGA) in Berlin bekannt. Dort legte man auf dem Gelände des Kienbergparks einen bis heute bestehenden Waldgarten an. Ebenfalls in Berlin, in der Nähe des Britzer Gartens, und in Kassel sollen demnächst weitere Food Forests entstehen – das Besondere daran: Im Unterschied zu den zahlreichen Privatgärten und Initiativen sollen diese von der Universität Potsdam wissenschaftlich bewertet werden. Dabei interessiert unter anderem, welche positiven Effekte Waldgärten auf das Kleinklima städtischer Grünflächen ausüben können.

Was es bringt

Nicht nur die Wissenschaft beschäftigt sich mit den Vorteilen des Waldgartens. Menschen, die nach diesem Prinzip gärtnern, haben schon viele praktische Erfahrungen gesammelt und sind international miteinander vernetzt. Eine von ihnen ist Sheila Darmos. Die in Deutschland aufgewachsene Soziologin führt das Unternehmen Silver Leaf in Skala, rund 300 Kilometer südlich von Athen auf der Peleponnes. In diesem Familienbetrieb, von ihrem Vater vor über 30 Jahren gegründet, baut sie Obst, Gemüse und Oliven biologisch an. Zudem unterstützt sie Bio-Landwirte der Region, indem sie deren Früchte kauft und weiterverarbeitet. Die eigenen Flächen bewirtschaftet sie nach dem Prinzip des Waldgartens und vermittelt dieses Wissen in Workshops. Ihr Antrieb? Rückblickend sieht sie es als eine Mischung aus Zufall und Intuition: »Auf unserem Grundstück wuchsen schon immer uralte Oliven zusammen mit Orangen. Die Umstellung auf einen Waldgarten begann dann 2015 damit, dass wir den Großteil der Orangenbäume auf einer Höhe von 50 Zentimetern absägten und neu veredelten.« Statt großer waren plötzlich nur ganz kleine Bäume da, und es fiel mehr Licht auf den Boden. Dadurch wuchsen überall Maulbeerbäume und Feigen – die bilden die obere Baumschicht, während die Orangenbäume eher in die mittlere Etage gehören. »Eine perfekte Kombination«, meint Sheila. Im Jahr der Umstellung starb ihr Vater, und sie übernahm die Farm. Sie hatte anfangs nicht viel Zeit, sich um das Grundstück zu kümmern. Ein Jahr später stellte sie fest, dass sich die Fläche in einen Maulbeerwald verwandelt hatte: Neben jeder Orange wuchsen mindestens zwei oder drei Maulbeeren und eine Feige. »Jeder Landwirt, der damals vorbeikam, drängte mich dazu ›aufzuräumen‹ und zu roden, aber es fühlte sich einfach nicht richtig an«, sagt Sheila. Stattdessen beobachtete und korrigierte sie bei Bedarf. Maulbeeren, die störten, pflanzte sie um. Denn natürlich muss die Fläche heute wie damals bewirtschaftet werden.

Eingriffe sind nötig im Waldgarten – das Aufräumen nicht

Ähnlich wie in einem Wald bleiben Blätter und organisches Material als sogenannter Mulch auf dem Boden liegen. Der Erhalt des Bodenlebens und seiner Fruchtbarkeit durch das Mulchen gehört zu den wichtigen Prinzipien eines Waldgartens und bringt Vorteile, wie Sheila Darmos erzählt: »Wenn mehr organische Masse im und auf dem Boden liegt, müssen wir im Sommer weniger wässern. Außerdem können wir beobachten, dass die Vielfalt an Insekten und kleinen Tieren zunimmt. Zum Beispiel haben wir neben jeden neu gepflanzten Baum zwei Stücke Holz mit einem Durchmesser von rund zehn bis 15 Zentimeter gelegt, diese mit Holzhäckseln bedeckt und dann eine Schicht Gras als Mulch daraufgelegt.« Nach wenigen Wochen konnte sie beobachten, dass in den meisten dieser Haufen Eidechsen ihre Nester gebaut hatten. Die Farmerin lässt sich gerne von den positiven Effekten, die eine Landnutzung nach dem Vorbild des Waldes bringt, überraschen.

Welche Pflanzen wachsen

Den Vorteil, in mehreren Schichten zu denken und zu gärtnern, nutzt Sheila unter anderem mit hohen Feigen, mittelhohen Orangen und in Bodennähe mit Andenbeeren. Bleibt die Frage, was in einem mitteleuropäischen Waldgarten gedeihen könnte. Das Prinzip funktioniert ähnlich wie in den Tropen oder in mediterranen Regionen, nur die Pflanzenauswahl ist eine andere: Konkret könnten auf einem ausreichend großen Grundstück Obstbäume wie Apfel, Birnen oder Zwetschgen die Baumschicht bilden. 

Die Strauchschicht ließe sich hierzulande beispielsweise mit Haselnüssen oder Beerensträuchern wie Himbeeren, Stachelbeeren oder Johannisbeeren bepflanzen. Als untere, bodendeckende Schicht kommen (Wald-)Erdbeeren oder Kräuter wie Minze infrage. Auch klassisches Gemüse wie Kürbisse, Gurken, Möhren oder Salate könnten als Teil dieser Krautschicht angebaut werden. Grundsätzlich steht in einem Food Forest die ganze Palette essbarer Pflanzenarten zur Verfügung. Aber ist es unter Bäumen und Sträuchern nicht viel zu dunkel, um am Boden noch etwas anzubauen? Gemüsebeete müssen schließlich in der Sonne liegen, und Erdbeeren schmecken süßer, wenn sie nicht im Schatten gedeihen.

Was langfristig möglich ist 

Es stimmt natürlich: Ob in einem Food Forest auch sonnenhungrige Gemüse wie Paprika oder Tomaten gedeihen, hängt von den Lichtverhältnissen ab. Sind die (Obst-)Bäume frisch gepflanzt, kann nahezu alles wachsen. Doch der Wandel ist Teil eines Waldgartens, erzählt Sheila Darmos: »Das ist ein Ökosystem, das sich ändert: Am Anfang mag genug Licht vorhanden sein. Später, wenn die Bäume größer werden und weniger Licht zu den unteren Schichten durchdringt, werden sich auch die Pflanzenarten ändern. Ich muss mich auf den Lauf der Natur einlassen, wenn ich einen Waldgarten habe. Es ist ein ständiges Beobachten, Eingreifen und Lernen.« Wer langfristig Gemüse anbauen möchte, sollte schon bei der Planung daran denken und die Bäume zum Beispiel an der nördlichen Grenze des Grundstücks pflanzen. Je nach Grundstücksgröße ist es auch möglich, Gehölze mit entsprechendem Abstand zu pflanzen, sodass die Baumkronen kein geschlossenes Dach bilden. Ebenfalls denkbar: eine für sonnenhungrige Arten reservierte Lichtung. 

Wichtige Faktoren sind licht, Boden, Wasser – und Zeit

Ein Waldgarten verlangt neben genauer Planung und sorgfältiger Beobachtung auch eine Extraportion Geduld. Denn zumindest die Gehölze brauchen Zeit, um sich zu etablieren und zu wachsen. Wer schon ausgewachsene Bäume im Garten hat, kann sich glücklich schätzen und mit dem, was da ist, umgehen. Sofern unter den Bäumen halbschattige Verhältnisse herrschen, lassen sich dort Beerensträucher anbauen, und in der Krautschicht könnten Erbsen, Bohnen oder Petersilie gedeihen. Noch unkomplizierter wird es, wenn »echte« Waldpflanzen in der Krautschicht wachsen: Waldmeister oder der eingangs erwähnte Bärlauch gedeihen problemlos unter Laubbäumen und liefern aromatische Ernten. Sie breiten sich an günstigen Standorten zwar aus und liefern mehr Blätter, als man braucht, aber das darf man gelassen sehen. Diese beiden Arten kann man ernten, muss es aber nicht. Eine gewisse Gelassenheit empfiehlt sich ohnehin, denn der Nutzen eines Waldgartens ist vielfältig: »Sein großer Vorteil ist der positive Effekt auf unsere Gesundheit. Er tut uns gut. Mit einem Waldgarten schaffen wir positive und gesunde Lebensräume für uns selbst«, sagt Sheila Darmos.

Nähere Informationen über den Betrieb von Sheila Darmos und ihre Workshops unter: www.silver-leaf.de, Workshops unter: www.thesouthernlights.org

Stefanie Syren hätte nach dieser Recherche am liebsten einen eigenen Food Forest gepflanzt, aus Platzgründen begnügt sich unsere Autorin aber mit einem Apfelbaum im Garten. Dafür mulcht sie die Beete dort ab sofort.

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