König der Klippen

Der Nationalpark Jasmund hat alles im Überfluss: dramatisch schöne Kreidefelsen, die atem­beraubende Aussicht auf die Ostsee und 300 000 interessierte Besucher im Jahr. Weniger beachtet, aber genauso wertvoll ist der unberührte Buchenwald in Deutschlands kleinstem Nationalpark – er krönt die Klippen.

Von Britta Mentzel, Ausgabe 01/20

Wer sich diese Landschaft ausgedacht hat, muss einen Sinn für Farben haben: Über dem tiefen Blau der See erhebt sich das gleißende Weiß der Felsen, über das sich eine dunkelgrüne Borte Waldrand zieht. So wirkt Rügens Kreideküste vom Meer aus oder von einer der Aussichtskanzeln, etwa am Königsstuhl oder dem Viktoriablick. Nie wirkt die Optik gleich, sie wechselt je nach Jahreszeit und Wolkenstand, je nach Tageszeit und Lichteinfall – der zumeist strahlend ist, denn so viele Sonnenstunden wie Rügen zählt kaum ein anderer Landstrich in Deutschland. Im Jahresdurchschnitt scheint die Sonne hier mehr als 1 800 Stunden. Im Sommer 2018 erwärmte sie das Wasser auf Temperaturen, die normalerweise nur das Mittelmeer erreicht. Bis zu 25 Grad warm plätscherte die Ostsee an den Kieselstreifen des Hochufers und die feinsandigen Strände von Mönchgut, und in den Seebädern von Baabe bis Thiessow herrschte ein Andrang wie in Rimini. 

Doch vom Badetourismus allein, der bis ins Jahr 1795 und die kohlensäurehaltigen Quellen der Sagarder Brunnen­aue zurückreicht, muss Deutschlands größte Insel nicht leben, denn die Attraktionen sind weit gestreut. Teils sind die menschengemacht, wie das Jagdschloss Granitz, das Kreide-Museum in Gummanz oder die Tauchgondel am Ende der 400 Meter langen Seebrücke von Sellin, teils sind sie naturgegeben wie die unnachahmlichen Klippen. Auf einer Länge von zehn Kilometern zieht sich ihr weißes Band an der Halbinsel Jasmund hin und bezaubert alle: Prinzessinnen, wie 1865 Viktoria von Preußen, Künstler, wie die Maler der Romantik, und mindestens 300 000 Besucher, die jährlich ins Nationalparkzentrum Königsstuhl kommen.

Ein besonderer Baustoff

Geologisch betrachtet stellen die bis zu 118 Meter hohen Kreidefelsen ein reichliches Durcheinander dar aus Sand, Kies, Mergel, Muschelschalen und dem Sedimentgestein Kreide, das sich während der letzten Eiszeit unter großem Druck in Falten legte. Das Satellitenbild zeigt das Wirken der rohen Kräfte und lässt die nur durch eine schmale Landbrücke mit dem restlichen Rügen verbundene Halbinsel Jasmund wie die eingedellte Nase eines Comic-Hais erscheinen. Auf ihrem welligen Relief entstanden auf einer Vielzahl von Böden unterschiedliche Lebensräume: Blockstrände, Steilufer, Moore mit Toteis­löchern, Kalktrockenrasen und vor allem Wälder.

Die Kreide selbst – an der Nordostküste Rügens erscheint sie in besonders reiner Form – hat sich aus den kalkhaltigen Schalen, Panzern und Skeletten winziger Lebewesen gebildet, regelmäßig finden Fossiliensammler Reste aus der Vorzeit. So sehr ist die Küste in Bewegung, dass sie beinahe organisch wirkt, auch wenn der Druck der Landmasse und das Nagen der Ostseewellen die Dynamik auslösen. 

Das beweisen bereits die stimmungssatten Bilder der deutschen Romantik: Caspar David Friedrichs Bild von den »Kreidefelsen auf Rügen« etwa entstand, anders als lange gedacht, an der Stubbenkammer und nicht am Wissower Klinken, der 1818 noch vollkommen anders aussah. Der charakteristische Zinken der Klippe brach im Februar 2005 ab, ein späterer Felssturz begrub eine Strandspaziergängerin. Vor ein paar Jahren landete die Kreide erneut in den Schlagzeilen, als der Hang am Königsstuhl rutschte und einen Strandzugang unpassierbar machte – hier ist alles in Bewegung und der Mensch nur ein Zaungast im ewigen Getriebe.

Im Schatten alter Buchen

Diese Einstellung ist nicht der schlechteste Begleiter durch den 1990 gegründeten Nationalpark Jasmund. Sei es am Strand, über dem sich die Kreidefelsen übermächtig türmen, sei es auf dem elf Kilometer langen Hochuferweg von Sassnitz zum Königsstuhl – die Ehrfurcht wandert mit. Der Pfad, den viele für einen der schönsten in Deutschland halten, führt durch ein Mosaik der Ökosysteme. Im Frühjahr leuchtet der Waldboden leberblümchenlila oder schlüsselblumengelb, bevor sich im Sommer das dichte Laubdach schließt und nur noch vereinzelte Sonnenstrahlen hindurchlässt. Etwa 80 Prozent der gut 2 450 Hektar großen Landfläche des Nationalparks bedecken Buchenwälder. Als »Alte Buchenwälder und Buchenurwälder Europas« stehen sie seit Juni 2011 auf der Liste des UNESCO-Welterbes und geben eine Ahnung von dem Ur-Wald, der mal ganz Deutschland überzog. Kippt ein Baumriese um, wird deutlich, worauf hier alles Leben gründet: auf weißem feinen Kalk, der unterm Kalktrockenrasen auch als Nährboden dient für mehr als 25 Orchideenarten.

Schon seit 1929 steht das Gebiet um Jasmunds Klippen unter Schutz – bereits damals ging die Sorge um, dass der Kreideabbau auf Schönheit keine Rücksicht nehmen könnte. Die forstwirtschaftliche Nutzung endete 1990 mit der Ausweisung zum Nationalpark, seitdem wächst, lebt und vergeht der baltische Waldgersten-Buchenwald, wie es seine Natur ist. Auf den Steilhängen gedeiht Orchideen-Kalkbuchenwald, in den Bachtälern wechseln sich Eschen und Buchen mit Erlen, Mooren und Quellsümpfen ab.

Blick auf die Bauten

Vielleicht hat Ulrich Müther die Wälder vor seiner Haustür oft durchstreift. Der Bauingenieur, 1934 in Binz geboren und 73 Jahre später dort gestorben, hat die organische Form in Architektur übersetzt. Die nur wenige Zentimeter dünnen Spritzbetonkonstruktionen, von Müther Hyparschalen genannt, bilden Dächer, die aufgespannten Flügeln oder Wellen gleichen. Über 70 Schalenbauten hat Müther geschaffen, viele haben einen späteren Zeitgeschmack oder die mangelnde Pflege nicht überlebt. Zwei wichtige Müther-Werke wurden jüngst saniert: der Seenotrettungsturm in Binz und der Musikpavillon »Kurmuschel« in Sassnitz. Ihre leichte Konstruktion bildet den größtmöglichen Kontrast zur anderen Architektur in Nationalpark-Nähe: der Nazi-Bau Prora, eine riesige »Kraft durch Freude«-Anlage und einst als »Bad der 20 000« konzipiert. Hier sollten sich die linientreuen Volksgenossen vorm 4,5 Kilometer langen Betonblock am Strand erholen. Es wirkt wie eine späte Gerechtigkeit der Geschichte, dass es nie dazu kam – im Gegenteil: Nach Kriegsende kasernierte die NVA ihre Soldaten in fünf der ursprünglich acht Blocks, ein Sperr- statt ein Spaßgebiet. Den Namen Prora trägt auch das Naturerbezentrum mit Waldwipfelpfad und hölzernem Aussichtsturm. Seit 2013 überragt dieser 40 Meter hohe »Adlerhorst« den Beton und die Bäume.

Informationen 

Nationalpark Jasmund
Stubbenkammer 2a
18546 Sassnitz, Tel. 038234 / 50 20
www.nationalpark-jasmund.de

Nationalparkzentrum Königsstuhl
www.koenigsstuhl.com;

Tourismuszentrale Rügen
Circus 16, 18581 Putbus
Tel. 03838 / 80 77-0, www.ruegen.de

Sie wollen mehr lesen und Ausgabe 01/2020 als gedrucktes Exemplar erwerben?
Hier geht es zu unserem Online-Shop.