»Ich stelle mir die Alpen der Zukunft gar nicht trist vor«

Viele Gletscher der Alpen schmelzen rasant, doch die Ursachen sind vielschichtiger, als oft angenommen. Die Glaziologin Andrea Fischer erklärt die Zusammenhänge und was kommt, wenn die Gletscher gegangen sein werden.

Interview: Britta Mentzel, Ausgabe 04/20

Dr. Andrea Fischer, Jahrgang 1973, ist Direktorin des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zusammen mit Bernd Ritschel hat sie ein Buch zu den Gletschern herausgegeben: »Alpengletscher – eine Hommage«, Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien 2020.

Über die Gletscherschmelze in den Alpen gibt es dramatische Prognosen; wie lauten die aktuellen Annahmen?

Andrea Fischer: Die aktuellen Prognosen zum Zustand der Gletscher um das Jahr 2100 weisen einige Unsicherheiten auf, aber man geht davon aus, dass zwischen 3 und 30 % der jetzt bestehenden Flächen noch übrig sein werden. Wir wissen noch nicht, mit welchen Emissionsszenarien wir zu rechnen haben, das macht eine Einschätzung für die Zeit ab Mitte des Jahrhunderts so unsicher. Hinzu kommt die Schwierigkeit, die Niederschlagsentwicklung abzuschätzen – das ist wesentlich problematischer als die Berechnungen der Temperaturveränderungen. 

Welche Gletscher sind am stärksten betroffen?

Einzelne Gletscher wie etwa der Jamtalferner in der Silvretta und die Übergossene Alm am Hochkönig in den Nördlichen Kalkalpen werden ziemlich sicher in den nächsten Jahrzehnten verschwinden. Bei anderen ist es schwierig, eine Vorhersage zu treffen. Das liegt auch daran, dass die Gletscher so unterschiedlich sind: Flache Gletscher in niedrigeren Höhen verschwinden schnell, andere haben eine dickere Eisdecke oder liegen im Schatten, da dauert das Abschmelzen länger. Es gibt eine Menge Gletscher, die man gar nicht mehr sehen kann – manche existieren schon Jahrhunderte im Verborgenen. Ihr Eis sieht aus wie große Schuttflächen, als würden sich die Gletscher tarnen, um vom Klimawandel nicht entdeckt zu werden.

Sie sprechen von Klimawandel, nicht von Klimakrise?

Klimawandel ist der naturwissenschaftliche Begriff. Er kommt aus der Eiszeitforschung und bezeichnete bis um das Jahr 2000 die Änderungen klimatischer Zustände. Danach gab es den »anthropogenen Klimawandel«, um den Anteil des Menschen an den Veränderungen hervorzuheben. Klimakrise ist kein rein naturwissenschaftlicher Begriff, sondern eher eine Wendung, um auf die aus der Veränderung des Klimas entstehende Krise der Gesellschaft hinzuweisen und den politischen Handlungsbedarf hervorzuheben.

Was kommt, wo die Gletscher gehen – Wald?

Die heute höchsten Bäume liegen nur etwa 100 Meter unter dem heutigen Eisrand. Interessanterweise sind es zumeist Fichten, etwa zehn bis 15 Zentimeter hoch. Auch Lärchen haben sich in den seit 1850 eisfrei gewordenen Gletschervorfeldern angesiedelt. Erstaunlicherweise wachsen nur sehr wenige Zirben; obwohl sie nachgewiesenermaßen vor 8000 bis 9000 Jahren dort standen und von den Gletschern überfahren wurden. Ein Großteil unseres Wissens über Gletscher kommt von Zirben. Durch die Einbettung in Moränenmaterial haben sich einige Zirben über Jahrtausende erhalten, sodass wir immer wieder uralte Holzstücke finden. Die Dendrochronologie kann heute den Zeitpunkt ihres Austriebs und ihre Wuchsperiode erforschen. Die Wiederbesiedelung des Gletschervorfelds ist ein interessantes neues Forschungsgebiet – hier spielen die saisonale Schneedecke eine Rolle, die Neigung und Exposition einer Lage, die Bodenbeschaffenheit und die Korngröße im Sedimentanteil.

So schlimm der Verlust ist – zugleich entsteht neues Leben. Wie werden die Alpen in 100 Jahren aussehen?

Ich persönlich glaube, dass es noch einige sehr kleine Gletscher geben wird. Die Wälder werden höher hinaufreichen, in Gebieten, wo heute Gletscher liegen, werden sich Almen und Wiesen ausbreiten. Schon 80 Jahre nach dem Verschwinden des Eises beträgt die Bedeckung mit Gefäßpflanzen wie dem Alpen-Weideröschen, dem Hornkraut und dem Zwerg-Ruhrkraut 80 % der Bodenfläche. Ich stelle mir die Alpen der Zukunft gar nicht trist vor.

Die Wälder werden höher hinaufreichen, in Gebieten, wo heute Gletscher liegen, werden sich Almen und Wiesen ausbreiten.

Welche Funktion im Weltklima haben die Alpengletscher?

Tatsächlich spielen die Alpen für das Weltklima keine sehr große Rolle, sie sind ein Gebirge mit im Vergleich nur sehr kleinen Eisflächen von derzeit 1800 Quadratkilometern. Weltweit beträgt die Gletscherfläche über 700 000 Quadratkilometer. Dennoch sind die Alpengletscher für die Klimaforschung wichtig, weil wir hier auf eine lange und gute Forschungsgeschichte zurückgreifen können.

Wann ist Ihnen persönlich das erste Mal deutlich geworden, wie groß die Gefährdung der Gletscher ist? Gab es ein auslösendes Ereignis?

Ich habe das Jahr 2003 bewusst miterlebt als erstes Jahr, in dem die Gletscher stark geschmolzen sind. Damals herrschte der erste Hitzesommer seit 1947. Zunächst meinten vor allem ältere Glaziologen, es handele sich um ein Einzelereignis. Doch danach kamen mehrere extreme Schmelzjahre – und in den letzten fünf Jahren ist eine ganz neue Quantität der Abschmelzung zu beobachten, wir sind seitdem sozusagen in ein neues Regime eingetreten.

Damals, vor fast 20 Jahren, gab es diese sehr wertvollen Diskussionen, doch jetzt merken wir, dass wir in eine neue Phase eingetreten sind. Jetzt zeigen nicht nur Modellrechnungen, sondern schon die Messwerte, dass die Gletscher wirklich verschwinden, die Messungen machen die Prozesse klar ablesbar.

Ein nicht kalkulierbarer Faktor bleibt aber die natürliche Variabilität der Gletscher; sie besteht nach wie vor und kommt auf den menschgemachten Temperaturanstieg noch obendrauf.

Auch um das Jahr 1000 herum herrschte auf der Erde eine Warmzeit. Standen damals Wälder dort, wo später Alpengletscher wuchsen?

Für das Jahr 1000 nach Christus haben wir nur wenige Funde außerhalb der Gletscher. Fest steht: Es gab in mehreren Epochen der Vergangenheit eine weit nach oben verschobene Baumgrenze. Allerdings lagen damals andere Ursache vor – der bronzezeitliche Bauer hatte wohl keinen Einfluss auf das Weltklima. Das liefert einen weiteren Beleg für die natürliche Variabilität. Lange galt es nicht als en vogue, sich mit natürlichen Schwankungen zu beschäftigen. Aber um die Phänomene richtig einzuschätzen, muss man sich mit beidem beschäftigen, dem menschgemachten Klimawandel und der natürlichen Variabilität.

Mit dem Eis verschwindet auch ein wichtiger Teil des geologischen Gedächtnisses der Erde. Konservieren Sie Gletscherbohrkerne für spätere Forschungen?

Ja, es gibt Ice Memory, den Zusammenschluss mehrerer Kollegen zu einem großen internationalen Projekt. Wichtige Bohrkerne und Proben werden in die Antarktis transportiert, um sie dort zu erforschen und zu konservieren.

Der Permafrost gilt als »Kitt der Alpen« ­– mit der Klimakrise taut er auf, die Felsen bröckeln. Kommen uns bald die Berge entgegen? Was kann man tun, um die Natur – also auch den wertvollen Baumbestand – und Besiedlungen zu schützen? 

Tatsächlich beobachten wir eine Zunahme von Sturzereignissen in der Nähe von Gletschern. Die Frage nach der Ursache ist relativ kompliziert: Berge bröckeln immer, Erosion findet ständig statt. Es gilt daher zu ermitteln, warum und in welchem Ausmaß Häufungen stattfinden. Liegt es an den Niederschlägen oder am Rückzug der Gletscher? Das erforschen wir gerade erst. Auch bei diesem Prozess ist es schwierig, zwischen der natürlichen Variabilität und einem echten Trend zu unterscheiden.

Um die Menschen in den Tälern und auch die Wälder zu schützen, müssen wir an erster Stelle die Prozesse verstehen: Wann, unter welchen Umständen wird es Ereignisse geben? Dann wissen wir auch, welche Schutzmaßnahmen sinnvoll und kostenadäquat sind.

Haben Sie den Eindruck, dass in Zeiten des Klimawandels genug auf die Wissenschaft gehört wird?

Historisch betrachtet gibt es die Wissenschaft, mit der man versucht, Probleme durch Erkenntnisse zu lösen, erst seit 300 bis 400 Jahren. Bedenkt man diese kurze Zeitspanne, glaube ich, dass die Wissenschaft heute einen guten Platz in der Gesellschaft einnimmt. In der Aussage, die Wissenschaft würde nicht erhört, schwingt immer so etwas Beleidigtes mit. Dabei müssen auch wir Wissenschaftler aufpassen, dass wir nicht die Sprache der Menschen verlieren. Wir dürfen uns nicht wie in einer Blase von der Bevölkerung abkoppeln. Mein Eindruck ist, dass ein guter Dialog stattfindet. Denn schließlich kann man nur mit wissenschaftlichen Erkenntnissen keinen Staat führen, es braucht neben den Fakten auch den Dialog der Interessen.

In der Aussage, die Wissenschaft würde nicht erhört, schwingt immer so etwas Beleidigtes mit.

Die ständig zurückweichenden Alpengletscher geben immer wieder Holzfragmente frei, bisweilen sogar größere Teile von Baumstämmen, wie den »Pasterzenbaum« am Großglockner. Was war Ihr bisher »aufregendster« Pflanzenfund?

Ich finde immer wieder Dinge auf und unter Gletschern, das kann man ein Leben lang machen … aber ein ganz besonderer Fund ist mir noch nicht gelungen. Zur Zeit suchen wir viel nach alten Böden. Vieles wird gerade freigelegt. Außerordentlich spannend dürften die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden, wenn die Gletscher in den Hochlagen schmelzen.

Wenn die Gletscher in den Alpen verschwunden sind, muss die Glaziologin auswandern?

Ich lass mich umschulen auf Gletschervorfeld, oder vielleicht gehe ich dann auf Tournee, als letzte Augenzeugin. Nein, Scherz beiseite. Es ist ja heute schon so, dass ich bei meinen Feldforschungen ständig Neuland betrete – pro Tag schmelzen 20 Zentimeter Gletscher weg. Ich werde also weiter flexibel und neugierig bleiben.

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