Zu den relativsten Begriffen menschlichen Zusammenlebens zählt der Wert. Bewertung, Wertekanon, Wertverlust … Was macht den Wert aus, kann er messbar oder gar allgemeingültig sein oder ist er nur für jeden persönlich zu ermitteln? Worauf manche viel Wert legen, Auto, Haus, Motoryacht, zählt für andere nichts. Klingt das Wort heute anders als vor 50 Jahren? Ist uns seine Bedeutung überhaupt der Überlegung wert?
Die Dehnbarkeit des Begriffs macht eine Beschäftigung mit ihm nicht einfacher; dass zum Beispiel Wertpapiere oft nicht das Papier wert sind, auf dem sie stehen, wissen Anleger, seit es die Wall Street gibt. Und wer vom Wertewandel redet, meint, wenn er 75 ist, etwas anderes als eine 25-Jährige. Was also hat ein derart schillerndes Wort im Wald verloren? Kann man ihn bemessen, den Wert des Waldes?
Ein Duft, der bleibt
Am einfachsten gelingt eine Einschätzung im Stillen. Vermutlich hütet jeder seine persönliche Waldgeschichte, voller Gefühle, Erinnerungen und Stimmungen. Wer als Kind die Geruchswelt des Waldes eingeatmet und seine Früchte probiert hat, kann diese Eindrücke ein Leben lang abrufen: Tannenboden, den die Sommerwärme aufheizt; der Geschmack von Waldhimbeeren; der Duft von nassem Herbstlaub im Mischwald. Keiner, der danach nicht eine Art lebenslanger Waldsehnsucht verspürte. Bei der einen tritt sie im Alltag nur noch hin und wieder zutage, ein anderer entwickelt sie spät, manche Menschen tragen sie immer mit sich. Sie fühlen sich im Wald vielleicht in ihre Kindheit, vermutlich aber immer in eine Parallelwelt versetzt.
Denn unter Bäumen gelten andere Regeln. Wenn es ringsum eisig ist, speichert der Wald die Wärme des Vortags, wenn Hitze überm Land brütet, kühlt sein quadratkilometerweiter Schatten. Der Wald bricht den Wind, er hält den Boden fest, er fängt Lawinen ab, er reguliert den Wasserkreislauf. Er wandelt Kohlendioxid in Sauerstoff um, er gibt Lebewesen Schutz; er will nichts Böses. Gefahr lauert im Wald nur durch andere Menschen oder vielleicht durch Tiere, die sich bedroht fühlen. Von uns.
Inseln der Wildnis
Neben Hochgebirgen, Moor und Höhlen gibt der tiefe Wald noch eine Ahnung von Wildnis. Er ist ein ganz eigener Lebensraum mit besonderen Gesetzen und seinen eigenen Prioritäten, ganz anderen Zeitdimensionen folgend. Vielleicht entspricht sein Rhythmus viel eher unserem inneren Takt.
Ungebrochen ist seine Wirkung als Freiheitsraum. Kaum eine Landschaft, ein Umfeld bindet derart wenig wie der Wald – nicht an Geld, nicht an Konvention oder Moral – im Wald sind alle Menschen gleich. Das galt früher für Räuber und Vogelfreie genauso wie für Sinn- und Gottessucher. Im Wald verbargen sich die Gesetzlosen vor den Vertretern der Ordnung, doch wer damals wirklich im Recht war, ließ sich nicht immer eindeutig klären. Schoss der vom Grafen bestallte Jäger mit mehr Legitimation als der Wilderer, dessen Familie hungerte?
Darauf mag man einwenden, dass sich die Zeiten geändert haben. Stimmt! Aber die Frage, wer oberste Priorität im Wald genießt, stellt sich bis heute. Wie verhält es sich, wenn Großraubtiere wie Bären oder Wölfe Reviere beanspruchen? Das klingt in unseren Breiten noch nach Zukunftsmusik (obwohl wieder Wolfsrudel durch Deutschlands Wälder streifen), im Süden von Slowenien leben mehrere Hundert Bären, manche sehr nah an menschlichen Siedlungen. Beinahe alle Populationen des Europäischen Braunbären wachsen – überlassen wir ihnen den Raum, den sie brauchen? In Österreich gibt es einen »Bärenanwalt«, der sich für den Schutz der großen Waldbewohner einsetzt. Brauchen wir nicht auch Waldanwälte?
Wo sich Interessen im Wald verirren
Noch komplizierter liegt der Fall, wenn wirtschaftliche Erwägungen hineinspielen. Seit Jahrhunderten nutzen Menschen Wälder und gestalten Forste als Einnahmequellen. Dass die Ressource nachwächst, macht ihren besonderen Reiz aus. Ist es – auch darum – gerechtfertigt, zur Förderung fossiler Brennstoffe Wälder abzuschlagen? Die Demonstranten im Hambacher Forst sagen »nein«, RWE pocht auf die Verträge. Und wir Deutschen, die wir unter dem Generalverdacht einer Wald-Romantisierung stehen, schweigen mehrheitlich.
Die Sprachwissenschaft weiß: Unsere Wörter sind nicht arbiträr, Sprache folgt der menschlichen Übereinkunft und nicht einer innewohnenden Gesetzmäßigkeit. Aber dennoch: Im Wort Wald schwingen Bedeutungen mit, die weit über die Ansammlung von Bäumen, Moosen und anderen Lebewesen hinausgehen. Mit dem Verstand allein lässt sich diese Qualität, dieser Wert, nur schwer durchdringen, das gelingt der Dichtung besser: »Frei wie ein Baum, brüderlich wie ein Wald« schrieb der türkische Dichter Nâzım Hikmet. Gehen wir in den Wald und denken darüber nach!
Eine der intensivsten Wald-Erfahrungen verbindet Britta Mentzel mit dem Pinzgau. Fast noch schöner als das Skifahren in den Osterferien waren die Spaziergänge im Wald, der – teils vereist, teils schon schneefrei – ein Gefühl echter Freiheit verhieß, sehr weit weg von den Pisten.
Sie wollen mehr lesen und Ausgabe 01/2020 als gedrucktes Exemplar erwerben?
Hier geht es zu unserem Online-Shop.